Zu meinen Forschungsschwerpunkten als Kulturwissenschaftler und Kulturhistoriker gehört seit vielen Jahren schon die Geschichte und Theorie von Spiel und Spielen. Aus diesem Kontext stammt auch mein Buch, das dieses Jahr beim Wissenschaftsverlag De Gruyter veröffentlicht wurde (mehr Information s.u.). Schon nach diesem Satz werden vielleicht einige aufhorchen und fragen wollen: Wieso „Spiel“ und „Spiele“? Sind sie nicht dasselbe? Tatsächlich gehört danach zu fragen bereits zum Thema. Denn wie schon Johan Huizinga und Roger Caillois feststellten, unterscheide ich Spiel als Praxis, als das Tun, den Spielprozess, von den Spielen als den Formen, in denen diese Praxis in Erscheinung tritt. Im Englischen unterscheidet man beide Aspekte viel besser als im Deutschen, wo man einerseits von play spricht und andererseits von dessen Einrichtungen, den games.
Wer sich für die Geschichte von Spiel und Spielen interessiert, stößt fast unweigerlich auf das Spielebuch des Königs Alfons X., der zwischen 1252 und 1294 über das iberische Reich von Kastilien und León herrschte. Bei diesem Buch handelt es sich um eine der wichtigsten Quellen zur mittelalterlichen Spielkultur. Auf 100 Pergamentseiten werden genau 144 Schachprobleme, Brett- und Würfelspiele in 7 Abschnitten behandelt. Mit seinen farbenprächtigen Miniaturen und instruktiven Texten bietet die Handschrift, heute in der Klosterbibliothek des Escorial bei Madrid aufbewahrt, einen einmalig lebensnahen Einblick in die Spielkultur und Alltagswelt der Zeit. Und tatsächlich gibt es gute Gründe dafür anzunehmen, dass es sich um die erste in Buchform gefasste Spielesammlung Europas handelt. Das Werk ist jedoch viel mehr als eine bloße Sammlung von Spielbeschreibungen. In den Texten geben Alfons und seine Schreiber darüber hinaus zahlreiche Hinweise zur tieferen, philosophischen Bedeutung von Spiel und Spielen für die Menschen. Das zieht sich teilweise bis in die Praxis einzelner Spiele hinein, wenn etwa die astronomischen Spiele (s. Abbildung) auf die kosmologische Bedingtheit menschlicher Existenz aufmerksam und im Spiel erfahrbar machen.

Zu den im Werk besprochenen metaphysischen Dimensionen gehört auch der in Spielen thematisierte, tiefe innere Zusammenhang zwischen der Ungewissheit von Zukunft und menschlicher Handlungsfähigkeit. Festgestellt wird: Unterschiedliche Spieldesigns können unterschiedliche Erfahrungen von Ungewissheit, oder, mit dem allgemeineren Begriff: Kontingenz, erzeugen. Kontingenz wird in der philosophischen Tradition Europas seit der Antike gewöhnlich als Gegenbegriff zu Notwendigkeit verstanden, als dasjenige, was sein oder nicht sein kann. Die Kontingenzerfahrungen im reinen Glücksspiel, wie etwa Roulette oder vielen Würfelspielen, sind dabei andere als im Schachspiel, wo der Zufall weitgehend minimiert ist, sodass es beinahe vollständig von rationalen Entscheidungen abhängt. Alfons X. deutet es auch als ein Spiel reiner, notwendiger Rationalität. Als dritte Kategorie zwischen reinem Zufall und strengem Regelkonformismus existieren Zwischen- und Mischformen, in denen die Entwicklung des Spielverlaufs teils durch rational-strategische Planung beeinflusst werden kann, teils von unkontrollierbaren Zufallsereignissen abhängt. Zufallsereignisse kann man in Spielanordnungen nur ertragen oder, bestenfalls, auf sie reagieren lernen.
Dass sich Entscheidungen, die die Zukunft betreffen, gerade durch Spiele modellieren lassen, mag uns heute selbstverständlich scheinen. Spätestens seit Beginn moderner mathematischer Wahrscheinlichkeitsrechnung im 17. Jahrhundert fühlen wir uns mit statistischen und stochastischen Zusammenhängen vertraut; sie gehören fest zu unserem Alltag und nehmen uns viel von der Furcht vor der Ungewissheit der Zukunft. Sie vermitteln uns ein – bisweilen trügerisches – Sicherheitsgefühl, so als hättem wir die verborgenen Strukturen des Zufalls so gut verstanden, dass von ihnen kaum noch Gefahr ausgeht. Mit Niklas Luhmann gesprochen sind Statistik und Stochastik mathematische Instrumente, durch die aus unbeherrschbaren Gefahren kalkulierbare Risiken werden. Man denke nur einmal an das moderne Banken- und Versicherungswesen, dessen Hauptgeschäft darin besteht, Zukunft im Heute organisieren zu wollen – ganz gleich, ob es zukünftige Gewinne oder mögliche Verluste geht.

Nun ist eine Sache in diesem Kontext auffällig: Die Entwicklung der modernen Wahrscheinlichkeitsrechnung ist ganz eng mit der mathematischen Analyse von Spielen, insbesondere von Glücksspielen, verknüpft. Als Gründungsdokument der modernen Wahrscheinlichkeitsrechnung gilt ein Briefwechsel zwischen Pierre de Fermat (1607-1665) und Blaise Pascal (1623-1662) zwischen Juli und Oktober 1654. Darin ging es über eine Berechnung der gerechten Aufteilung des Einsatzes eines Glücksspiels bei vorzeitigem Abbruch des Spiels. Aber auch schon frühere Autoren, wie Gerolano Cardano (1501-1576), hatten sich für eine mathematische Analyse von Glücksspielen interessiert, was sie bereits auf die Spur der Wahrscheinlichkeit setzte, noch ehe dieser Begriff definiert worden wäre, wie wir ihn heute verstehen. Einen wesentlichen Schritt in diese Richtung vollzog erst der Schweizer Jakob Bernoulli (1655-1795), der mit seiner Ars conjectandi (1713) erstmals eine verallgemeinerte Wahrscheinlichkeitstheorie vorlegte, für die er das berühmte Urnenmodell vorstellte, welches noch heute in Schulen gelehrt wird. Mit etwas Wohlwollen könnten wir auch die mit verschiedenfarbigen Kugeln gefüllte Urne als ein (abstrahiertes) Glücksspiel begreifen, um zu unterstreichen, wie eng Spiel/Spiele und das Vertständnis der Strukturen des Zufalls miteinander verknüpft sind.
Auch ein anderer Zweig der Mathematik beruht auf der Analyse von Spielen, was sich schon an ihrem Namen abzeichnet, nämlich die Spieltheorie. Mehr noch als die klassische Wahrscheinlichkeitsrechnung interessiert diese sich für die internen Dynamiken, wie verschiedene an einer Spielanordnung beteiligte – rational agierende – Handlungsakteure strategische Entscheidungen unter den von diesen Anordnungen gesetzten Bedingungen treffen. Die Voraussetzung von rational Handelnden ist hier natürlich essenziell, denn die Spieltheorie kann nur feststellen, welche Entscheidungen am nützlichsten und wahrscheinlichsten wären, sofern alle Spielenden allein nach rationalen Gesichtspunkten handeln würden (Rational Choice). In der Empirie verhält sich das mitunter anders als die Modelle voraussagen würden, doch ist das ein anderes Thema für eine andere Gelegenheit. Ein wichtiges Produkt der Spieltheorie ist zu überlegen, wie Spielanordnungen strukturiert werden können, um Kooperation der Partner entweder wahrscheinlicher oder weniger wahrscheinlich zu machen – was unter anderem ihren Erfolg in verschiedensten Wissenschaftszweigen erklären mag, von der Ökonomie, Politik- und Sozialwissenschaft bis hin zur Biologie. Und auch hier hatte John von Neumann (1903-1957) einen wichtigen Grundstein durch die Analyse von Gesellschaftsspielen gelegt („Zur Theorie der Gesellschaftsspiele“ von 1928).

Diese und verwandte Zusammenhänge nahm das Buch zum Anlass zu erforschen, inwiefern zeitgenössische Gelehrte Alfons‘ X. in ihrer Zeit, dem 13. Jahrhundert, ebenfalls einen Zusammenhang zwischen dem Umgang mit Ungewissheit und Entscheidungs- bzw. Handlungsfähigkeit des Menschen in Spielen erkannt oder die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit von Menschen angesichts zukünftiger Ungewissheit sogar durch Spiele zu modellieren versucht hatten. Dabei erweisen sich das 12. und 13. Jahrhundert als eine hochspannende Schwellenzeit, in der Spiele zunehmend intellektuell erschlossen wurden und in der Tat in verschiedenen Sachgebieten als Handlungsmodelle für den Umgang mit Ungewissheit gedeutet wurden, vor allem in (militärischer) Strategie, in der Ökonomie, Ethik und Metaphysik. In der konzentrierten Zusammenschau zeigen die untersuchten Quellen, wie sehr in dieser Periode Spiel als Praxis begriffen wurde, die Entscheidungsfähigkeit auch und gerade im Angesicht des unkontrollierbaren Ungewissen zu schulen und zu verbessern – was bedeutet: Spiel als eine Entscheidungskunst aufzufassen.

Conrad, Michael A.: Ludische Praxis und Kontingenzbewältigung im Spielebuch Alfonsʼ X. und anderen Quellen des 13. Jahrhunderts: Spiel als Modell guten Entscheidens, Berlin, Boston: De Gruyter, 2022. https://doi.org/10.1515/9783110764727 Die Publikation wurde gefördert von Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie von der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Zur Verlagsseite: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110764727/html?lang=en